unvorhergehört / projekt 2.06

konzert 06
teodoro anzellotti | akkordeon

01 märz 2009 | 19:45 uhr (einlass 18:30 uhr)

michael struck-schloen | moderation

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    01. märz 2009

    teodoro anzellotti | akkordeon

    toshio hosokawa | slow motion
    josé luis torá | contrapasso einer gesperrten K.457 (balletto dʼincerto)
    marcus antonius wesselmann | solo 15 - uraufführung
    - pause -
    martin smolka | lamento metodico
    brice pauset | wiegenlieder
    vinko globokar | dialog über luft

    teodoro anzellotti

    biographisches

    Biographisches

    Im süditalienischen Apulien geboren, wuchs Teodoro Anzellotti in der Nähe von Baden-Baden auf. Sein Musikstudium im Fach Akkordeon absolvierte er an den Musikhochschulen von Karlsruhe und Trossingen bei Jürgen Habermann und Hugo Noth und trat bald als Sieger aus verschiedenen internationalen Wettbewerben hervor.

    Seit den achtziger Jahren ist er regelmäßiger Gast bei großen Festivals und wird als Solist von führenden Orchestern engagiert. Teodoro Anzellotti hat wesentlich zur Integration des Akkordeons in das klassische Musikleben beigetragen.

    Dabei stellte er seine Kunst insbesondere in den Dienst der Neuen Musik: Durch neue Spieltechniken hat er die Klangfarben seines Instruments erheblich erweitert und das Hörbild profiliert.

    Mehr als 300 neue Werke wurden für Teodoro Anzellotti geschrieben: von Komponisten wie George Aperghis, Heinz Holliger, Toshio Hosokawa, Mauricio Kagel, Michael Jarrell, Isabel Mundry, Brice Pauset, Gerard Pesson, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm, Salvatore Sciarrino, Marco Stroppa, Jörg Widmann und Hans Zender.

    Luciano Berio schuf für ihn die sequenza XIII, die Anzellotti 1995 in Rotterdam uraufführte und danach bei vielen renommierten Festivals in aller Welt interpretierte.

    Seit 1987 unterrichtet Teodoro Anzellotti an der Hochschule der Künste Bern, seit 2002 auch an der Musikhochschule Freiburg im Breisgau. Seine Discographie umfasst ein Werkspektrum, das von Bach und Scarlatti über Janácek und Satie bis zu John Cage und Matthias Pintscher reicht.

    autobiographisches

    „Das Akkordeon dem Aschenputteldasein entreißen“

    An einem Frühnachmittag beim Fußballspielen kam meine Schwester, um mich sofort nach Hause zu holen. Ich hätte in kürze Akkordeonunterricht. Ohne Vorankündigung saß ich eine Stunde später bei einem italienischen Akkordeonlehrer im Unterricht.

    Mein Vater hatte schon in seiner Heimat Akkordeon gespielt, bei allen Festen, den traurigen wie den fröhlichen, in seinem kleinen Dorf in Apulien. Und natürlich reiste das Akkordeon, beinahe wie ein richtiges und wichtiges Familienmitglied, Mitte der sechziger Jahre mit nach Deutschland. Aus Platzmangel war der Akkordeonkasten in meinem Kinderzimmer deponiert, dem niemand auch nur nahe kommen durfte. Doch nun kam die Wende: ich durfte. Das Akkordeon mit den Tasten, Knöpfen und dem Balg in der Mitte und die vielstimmige Musik darauf wirkte immer wie ein Wunder auf mich.

    Es fiel mir leicht, die Fortschritte stellten sich schnell ein und ich war begeistert. Vor einem Jugendwettbewerb beängstigten sich meine Eltern vom vielen Üben und glaubten, ich könnte an diesem Übermaß psychischen Schaden nehmen, und brachten das Akkordeon vorübergehend außer Haus. Vom Unterricht wurde ich vorsichtshalber auch abgemeldet. Heimlich übte ich bei meinem, nun ehemaligen, Lehrer weiter. Bald danach machte ich die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule in Karlsruhe und wurde als Jungstudent aufgenommen.

    Mein neuer Lehrer empfahl mir in der ersten Stunde, mein Tasten-Akkordeon gegen ein Knopf-Akkordeon, das viel mehr Spielmöglichkeiten besäße, auszutauschen. Da ich wegen der kompletten Spielumstellung sowieso wie von vorne beginnen musste, willigte ich ein. Von heute aus gesehen war es der beste Ratschlag, den ich von ihm bekam. Mein alter Lehrer half mir wieder und lieh mir ein Knopf-Akkordeon.

    In der Musikhochschule bekam ich aber zu spüren, dass ich mit meinem Instrument zu einer Art persona infames zählte. Hier erst realisierte ich, wie gering die Reputation des Akkordeons in der seriösen Musikwelt war, geringer als die des Saxofons, der Gitarre, ja sogar noch geringer als die der Blockflöte.

    Irritiert aber zugleich inspiriert träumte ich insgeheim, das Akkordeon diesem Aschenputteldasein zu entreißen und der Welt die wahre, innere Schönheit des Akkordeon mit wunderbarer Musik zu zeigen.

    Teodoro Anzellotti

    der interpret

    »Ungebrochene Neugier« — der Akkordeonist Teodoro Anzellotti

    „Viele Musiker, auch Komponisten wie Dieter Schnebel und Gérard Grisey, fingen mit dem Akkordeon an, nur wenige blieben allerdings dabei“, bemerkt Teodoro Anzellotti im Rückblick. Die Gründe dafür sind vielschichtig und hängen auch mit dem geringen Stellenwert zusammen, den das von der Volksmusik vereinnahmte „Schifferklavier“ noch vor wenigen Jahrzehnten hatte. Anzellotti, der 1959 in der Nähe von Foggia in der Provinz Apulien (im Südosten Italiens) geboren wurde und seit 1966 in Deutschland lebt, ließ sich davon nicht abschrecken. Er entwickelte sich zum herausragenden Akkordeonisten, der maßgeblich Einfluss auf das Repertoire für sein Instrument nahm.
    Die Konzentration auf die zeitgenössische Musik erfolgte bereits während seines Akkordeonstudiums in Karlsruhe. Dafür verantwortlich ist zum einen seine sich früh abzeichnende virtuose Beherrschung des Instruments, die er als Voraussetzung ansieht, sich neuen Werken zu widmen und deren spieltechnische und ausdrucksspezifische Herausforderungen zu meistern. Zum anderen gehört das Akkordeon weder zum Orchesterinstrumentarium noch ist eine Karriere als Solist im klassischen Sinne möglich, da schlichtweg die Werke fehlen. Schon Anzellottis musikalische Ausbildung stützte sich mangels anspruchsvoller Originalkompositionen hauptsächlich auf Transkriptionen. So lag es nahe, neue Wege zu gehen, doch auch auf dem Feld der zeitgenössischen Musik musste erst Pionierarbeit geleistet werden. Als er Anfang der 1980er-Jahre studierte, war das Repertoire noch auf einige wenige Werke, etwa von Sofia Gubaidulina, Toshio Hosokawa, Nicolaus A. Huber und Hans-Joachim Hespos, beschränkt.
    Dies sollte sich rasch ändern. Neben dem Akkordeonstudium besuchte Anzellotti in Karlsruhe auch eine Kompositionsklasse, deren Absolventen er für sein Instrument interessierte. Auf diesen Erfahrungen beruht die Nähe zu den Komponisten, die Anzellotti seitdem pflegt und die sein Wirken als Interpret nachhaltig prägt. Dazu kommt eine ungebrochene Neugier. Das schier unerschöpfliche klangliche Potenzial des Akkordeons treibt ihn immer wieder auf Entdeckungsreisen und brachte ihm rasch den Ruf eines Spezialisten für Neue Musik ein. Der Gewinn von Wettbewerben und daraus resultierende Kontakte mit Komponisten und Rundfunkanstalten – besonders wichtig wurde der Kontakt zum WDR – taten ein Übriges. Seit Abschluss seiner Studien, zuletzt bei dem Akkordeonisten Hugo Noth in Trossingen (1985-87), konzertiert Anzellotti international als Solist und begeistert die „Szene“ für sein Instrument. Sein Anteil an der explosionsartigen Vermehrung zeitgenössischer Werke für das Akkordeon ab Mitte der 1980er-Jahre ist kaum zu überschätzen. Er trug entscheidend dazu bei, dass die Situation für junge Akkordeonisten heute eine völlig andere ist. Neben Solokompositionen wird das Akkordeon auch zunehmend in kammermusikalische Formationen einbezogen. Das Repertoire ist breit gefächert und erschließt sämtliche Ausdrucksspektren von kontemplativer Klanglichkeit bis zu greller Expressionskraft und Farbpracht.
    Auch Anklänge an Volks- und Unterhaltungsmusik finden wieder Eingang, etwa im Sinne ironisch distanzierter Betrachtung oder als subtile Verweise auf historische oder soziologische Bedeutungsebenen.
    Anders als bei den spieltechnisch weitgehend ausgereizten klassischen Instrumenten nimmt beim Akkordeon die Klangforschung nach wie vor breiten Raum ein. Neue Werke entstehen oft in enger Kooperation von Komponist und Interpret – wobei das Akkordeon selbst für einen so versierten Solisten wie Anzellotti immer noch viel Neuland bietet. Zwar hat sich das Instrument, dessen Prinzip der Klangerzeugung mittels durchschlagender Zungen ursprünglich von der japanischen Mundorgel Sho herrührt, bereits beträchtlich entwickelt. War es bei seiner Patentierung 1829 kaum mehr als eine Mundharmonika mit angebautem Balg, so erlaubt es heute Chromatik, ist polyphon spielbar und in dynamischer Hinsicht äußerst flexibel. Abgeschlossen ist die bauliche Verfeinerung und Erweiterung aber nicht. In Wechselwirkung mit den Anforderungen der Werke, die oftmals bis an die Grenzen des Möglichen und darüber hinausgehen, setzt sich Anzellotti stets mit den klanglich-technischen Eigenschaften des Akkordeons auseinander. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er vertrauensvoll mit einem Akkordeonbauer zusammen, von dem er erst kürzlich ein weiteres und, wie er meint, „phänomenales Instrument“ erhielt. Von den Komponisten erwartet Teodoro Anzellotti vor allem individuellen Zugriff und eigene Klangvorstellungen, die ganz automatisch zur Entstehung von Neuem und Überraschendem führen würden. In den Stücken, die er für das heutige Konzert auswählte, spiegelt sich dies eindrucksvoll wider.

    Egbert Hiller

    die komponisten



    © guy vivien

    Toshio Hosokawa: slow motion

    Zwischen Japan und Europa steht der 1955 in Hiroshima geborene Toshio Hosokawa. Er zählt zu den im Westen bekanntesten fernöstlichen Tonkünstlern. Die Verbindung von abendländischen Kompositionstechniken mit fernöstlicher Philosophie ist sein zentraler Schaffensimpuls, der ihn bereits in jungen Jahren bewegte und den er eingehend begründete: „Die Schönheit eines einzigen Shakuhachi-Klangs (Shakuhachi ist eine japanische Flöte) war mit der Schönheit der Musik Mozarts oder Bachs nicht zu vergleichen. Aber ein einziger Klang der westlichen Musik war wie ein Ziegelstein, mit dem man ein Musikbauwerk bauen kann, und dieser Klang ist kein selbstständiges Wesen, in dem eine erfüllte, natürliche Energie lebt. Dagegen reflektiert ein einziger komplexer Klang eines japanischen Instruments tiefes Schweigen und Finsternis; er lässt uns den Ursprung der universalen Energie erblicken.“
    Diesen „Ursprung“ lotete Hosokawa auch in dem 2002 entstandenen Stück slow motion aus. Darin knüpfte er an die kunstvoll verfeinerte, über 1000 Jahre zurückreichende japanische Hofmusik – „Gagaku“ – an. Sie ist streng zeremoniellen Charakters und weder als sakral noch als profan einzustufen, da diese in Europa vorgenommene Trennung in Japan so nicht existiert. „Gagaku“ stellt einen Oberbegriff für die Gesamtheit der höfischen Musik und ihrer Gattungen dar. Zu differenzieren ist zwischen „kangen“ als der rein instrumentalen Ensemblemusik und „bugaku“ als den vielfältigen von Instrumenten begleiteten Tänzen. In diesen altehrwürdigen Tanzformen versucht der Tänzer, sich ganz mit der Erde zu vereinen; seine langsamen Bewegungen sollen mit der Drehung der Erde um ihre Achse und dem Universum verschmelzen. Von diesem Ideal ließ sich Hosokawa in slow motion inspirieren. Die Klänge gemahnen an die Mundorgel Sho, einem Instrument der Hofmusik. In einem nächtlichen Tanz im Mondlicht tauchen sie auf wie aus dem Nichts – oder aus den Tiefen des Universums –, um wieder darin zu entschwinden.

    Egbert Hiller



    José Luis Torá: contrapasso einer gesperrten K.457 (balletto d’incerto)

    Noch nie habe er, so Teodoro Anzellotti, „ein Stück bekommen, das so tief in das Akkordeon hineingeht.“ Trotz extremer Komplexität im Hinblick auf Notation und Spieltechnik sei José Luis Torás contrapasso einer gesperrten K.457 (balletto d’incerto) ganz nah am Instrument komponiert. Die akribische Auseinandersetzung mit den akustischen und mechanischen Voraussetzungen eines Klangerzeugers ist fester Bestandteil der schöpferischen Arbeit Torás, der 1966 in Madrid geboren wurde. Intensiviert wurde dieser Ansatz durch den Kompositionsunterricht bei Helmut Lachenmann, den Torá nach dem Studium in seiner Heimatstadt erhielt. Ein Stipendium der Heinrich-Strobel-Stiftung in Freiburg sowie Kurse und Studien etwa bei Tristan Murail, Brian Ferneyhough, Salvatore Sciarrino und Matthias Spahlinger sowie bei den Darmstädter Ferienkursen bereicherten seine Ausbildung.
    contrapasso einer gesperrten K.457 (balletto d’incerto) stammt von 2006/2007. Vielschichtig sind die Bezüge zur Tradition. Den Begriff „Contrapasso“ entnahm Torá einem Vers aus Dante Alighieris „La Divina Commedia“ („Göttliche Komödie“), in dem das alttestamentarische Prinzip, „Gleiches mit Gleichem zu vergelten“, angesprochen wird. Dieses Prinzip übertrug er spitzfindig auf das Werk, und zwar gilt es „für die Beziehungen zwischen den verschiedenen Manualen der rechten bzw. linken Hand, für die durch den Balg gesteuerten Beziehungen zwischen beiden Händen, und für die des gesamten Stücks mit der Sonate in A-Dur K.457 von Domenico Scarlatti (1685 – 1757).“
    Diese ist gleichermaßen Bezugspunkt im Hintergrund und Gegenpol, an dem sich Klang und Struktur des Stückes entzünden. Torá verarbeitete Scarlattis Cembalosonate, ohne sie offen zu zitieren. Sie erscheint „gesperrt“, wie der Komponist es ausdrückt, der für diese Vorgehensweise eine auf die Kunstform des epischen Theaters bezogene Aussage von Walter Benjamin heranzieht: „Seine Gebärden muss der Schauspieler sperren können wie ein Setzer die Worte.“

    Egbert Hiller



    www.preparadise.deRELAUNCHED
    Marcus Antonius Wesselmann: solo 15

    Die schlichte Bezeichnung „solo“ verweist auf einen schöpferischen Grundimpuls des Komponisten Marcus Antonius Wesselmann. In den meisten seiner Werke zielt er auf rein innermusikalische Prozesse. Dieser Ansatz, den er konsequent verfolgt, steht allerdings im Spannungsverhältnis zu seinem Hauptwerk, dem szenischen Oratorium preparadise (1993 – 2002) auf Texte von Rainer Werner Fassbinder und Bertold Brecht. Darin sind die kompositorischen Ideen bereits angelegt, die Wesselmann in seinen Solostücken hinsichtlich ihrer strukturellen Potenziale auslotet und weiterentwickelt.
    In solo 15, einer Reflexion über Bewegung und Stillstand, wäre es verfehlt, nach einem verborgenen Programm zu forschen. Der „Stillstand“, versinnbildlicht durch liegende Akkorde, umrahmt einen schnellen Mittelteil, der nach einer kurzen Phase der Beschleunigung seine rasende Fahrt aufnimmt. Das Akkordeon wird zwar gegen seine volksmusikalische Tradition eingesetzt, doch geschieht dies gerade unter Einbeziehung jenes Akkordmanuals, das in der Volksmusik eine zentrale Rolle spielt und bei dem mit jedem Knopf, der gedrückt wird, ein Akkord erklingt. In solo 15 ist, so die Vortragsanweisung, „der Konverter auf Akkord geschaltet“ – wobei sich Wesselmann auf die Dur- und Mollakkorde beschränkte und die verminderten und Septakkorde ausklammerte.
    Die Verwendung dieser Akkorde ist in der zeitgenössischen Akkordeonliteratur zwar unüblich, führt im Kontext der komplexen strukturellen Disposition aber zu ungewöhnlichen Klangresultaten. Akzent- und Akkordschichten durchdringen sich in Gegenläufigkeit, Akkorde erscheinen phasenversetzt und markante Terzschichtungen werden gegeneinander verschoben. So entstehen „Klangwolken“, die durch die rhythmisch eigenständige Behandlung des Balgs noch verstärkt werden.
    Tremolierende Klangereignisse und Stillstand sind die Pole in solo 15, die unmittelbar miteinander korrespondieren. So werden gegen Ende einzelne Phasen überdehnt, bis sie in „Stillstand“ umschlagen: Der Kreis schließt sich. Wesselmann schrieb das Werk explizit für die solisten-Reihe im Austausch mit Teodoro Anzellotti, der es im heutigen Konzert uraufführt.» top

    Egbert Hiller



    Martin Smolka: lamento metodico

    Ob sich der tschechische Komponist Martin Smolka unbewusst ein wenig mit dem Schriftsteller Jaroslav Hasek und dessen „bravem Soldaten Schweijk“ (1921-23) identifiziert, sei dahingestellt. So wie Hasek aus gegebenen Anlässen hierarchische Ordnung, Militarismus und Bürokratie aufs Korn nahm, so steht Smolka den Maßgaben „hoher Kunst“ und wie auch immer gearteten „Avantgarde“-Impulsen ironisch distanziert gegenüber. Ohne sich direkt auf Hasek zu beziehen, reflektiert Smolka womöglich das – mit eigentümlichem Humor – angereicherte Ringen tschechischer Künstler um die eigene Identität angesichts von Fremdherrschaft.
    Zugleich berücksichtigt Smolka die Tradition der (tschechischen) „Avantgarde“, indem er Elemente der Vierteltonmusik einfließen lässt, die sein Landsmann Alois Hába (1893 – 1973) in den 1920er-Jahren ausprägte. Smolka passt in keine Schublade und entwickelte eine Klangsprache der Doppelbödigkeiten, in der Instrumental- und Umweltklänge, streng Konstruiertes und Persiflierendes, Spaß und Ernst aufeinander prallen. Obwohl das Akkordeon mit seinen vielfältigen klanglichen Assoziationsräumen diesem Ansatz entgegenkommt, stand er dem Instrument zunächst ablehnend gegenüber:
    „Um ehrlich zu sein: Über viele Jahre mochte ich den Klang des Akkordeons überhaupt nicht. Im französischen Chanson war es okay, aber auf der klassischen Konzertbühne? Dies war ein Ausgangspunkt für mein Stück. Der andere ist mein Lieblingszitat von Arvo Pärt: ’Der Komponist muss zu jedem seiner Klänge eine starke Liebe fühlen.’ Wie konnte ich diese widersprüchlichen Dinge in Einklang bringen? Zum Glück weiß Teodoro Anzellotti aus seinem Instrument wundervolle Klänge hervorzuzaubern. Und die beste Art, einen Klang lieben zu lernen, ist, ihn wieder und wieder zu hören. Dies war die Methode. Der Klang sollte weich und traurig sein. Ein kleiner sanfter Klang wie der Flügelschlag einer Blaumeise.“
    Diese Metapher unterstreicht den kontemplativen Charakter von lamento metodico (2006). Bereits im Titel spiegelt sich auch das Zusammentreffen von stark Emotionalem und Rationalem wider. Der „weiche und traurige Klang“ unterliegt methodischer Entfaltung, deren Logik Smolka aber, „seinem Gefühl folgend“, immer wieder unterminierte.
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    Egbert Hiller



    © eric garault

    Brice Pauset: wiegenlieder

    „Ich glaube, man muss eine Musik schreiben, die, wenn sie schon keine Antworten gibt, wenigstens aktuelle Probleme aufwirft. Wir leben nicht gerade in einer sicheren Zeit – umso verunsichernder, als dass die heute lebenden Komponisten mit dem ganzen bereits existierenden Kulturgut konkurrieren müssen. Aber wie Grisey ja bereits von mir behauptete: Ich bin ein fröhlicher Pessimist!“
    Diese Worte des Franzosen Brice Pauset stammen von 1999, von ihrer Aktualität haben sie nichts verloren. Besagte Konkurrenzsituation löste er auf, indem er selbst tief in die Musiktradition eintaucht und alte Formen wie den Kanon aufgreift und umdeutet. Aber er steht auch modernen Technologien wie Elektronik und Computer offen gegenüber. Neben Komposition u. a. bei Michel Philippot und Gérard Grisey studierte er elektroakustische Musik bei Michel Zbar und besuchte Kurse in musikalischer Informatik am Pariser IRCAM.
    In seinen wiegenliedern von 2008 konzentrierte er sich ganz auf das klangliche und spieltechnische Potenzial des Akkordeons, das er bis ins Extreme ausreizt. Mit Wiegenliedern im herkömmlichen Sinne hat das Werk nur wenig zu tun. Vielmehr bezieht Pauset den Begriff physiologisch auf das Verhältnis zwischen Instrument und Interpret: „Man hält das Akkordeon gegen den Bauch auf den Knien, als handle es sich um ein Kind, dem man abends eine Geschichte erzählt. Die symmetrischen, alternierenden Bewegungen erinnern mich an das Schaukeln einer Wiege. Aber es ist auch ein sehr gewaltiges Instrument, angesichts der Körperkraft, die beim Spielen erforderlich ist; gewaltig ist es auch im Hinblick auf die Virtuosität, die ihm entströmen kann, eine ungezogene, makabre Virtuosität. Aus diesen Gründen könnte man das Stück als eine Sammlung von Wiegenliedern beschreiben, jedes aus dem Blick eines kleinen Kindes, das traumhafte Momente erlebt, die von der Ekstase bis zu den traumatischsten Albträumen reichen.“» top

    Egbert Hiller



    © ziga koritnik

    Vinko Globokar: dialog über luft

    Vinko Globokar, der 1934 als Kind jugoslawischer Eltern in Anderny (Frankreich) geboren wurde, pflegte über Jahrzehnte seine Doppelidentität als Komponist und Interpret. Auch Jazz und Improvisation sind ihm tief vertraut und flossen in seine kompositorische Arbeit ein. Als Posaunist kennt und schätzt er intensiven Körpereinsatz, wenn auch auf andere Art als ein Akkordeonist. In seinem 1994 entstandenen dialog über luft, dem ältesten Stück im heutigen Programm, machte er das Instrument selbst zum Thema, indem er Prinzipien des Akkordeonspiels wie Ziehen und Drücken sowie die Imitation von Einatmung und Ausatmung durch den Balg in den Mittelpunkt rückte. Dass er sich mit der Atmung und ihrer Relevanz für die Klangerzeugung auch theoretisch beschäftigte, zeigt sich in seiner ebenfalls 1994 publizierten Schrift „Einatmen – Ausatmen“.
    Vor diesem Hintergrund mochte es Globokar besonders gereizt haben, das Akkordeon in dialog über luft, bizarre Luftgeräusche eingeschlossen, in ein „Blasinstrument“ mit einer sehr flexiblen, der menschlichen Stimme nachempfundenen Artikulation zu verwandeln. Aber auch die Stimme des Interpreten selbst tritt hinzu und dringt ins dichte Beziehungsgeflecht zwischen linker Hand, rechter Hand und Balg ein. Anhand von Schlüsselwörtern scheint sie die technischen Vorgänge und sinnlich-emotionalen Regungen beim Spielen des Stücks zu kommentieren. Stimme und Instrument gehen phasenweise ineinander auf, kontrastieren aber auch scharf miteinander.
    Die Spannweite in dialog über luft reicht von dämonischer Emphase und Virtuosität bis zu Schlichtem und Liedhaftem. Globokar scheute nicht vor vermeintlichen melodischen und rhythmischen Banalitäten zurück, die als (imaginäre) Zitate gemeint sind und an die Vergangenheit des Akkordeons als beliebtes Instrument der Volksmusik gemahnen. Dazu kommen plakative Gesten wie ausladende Balgbewegungen, die die luftgesteuerte Klangerzeugung beim Akkordeon betont theatralisch zum Ausdruck bringen. Wie im Rausch wirbelt dialog über luft mit dem Akkordeon verbundene Klischeevorstellungen durcheinander.» top

    Egbert Hiller