unvorhergehört / projekt 2.04

konzert 04
johannes schwarz | fagott

04 januar 2009 | 19:45 uhr (einlass 18:30 uhr)

michael struck-schloen | moderation

eine produktion von

  • minimal productions
  • in kooperation mit

  • altes pfandhaus
  • kartäuserwall 20
    50678 köln

    karten

    vvk: 10 euro zzgl. vvk-gebühren | ak: 15 euro

    kartenreservierung

  • concerts@minimal-productions.de
  • telefon: +49 (0) 221 - 430 825 18

    anfahrt und lage

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  • programm

    04. januar 2009

    johannes schwarz | fagott

    enno poppe | holz solo (1999 / 2005)
    dietrich eichmann | study no. 393 (2007 / 2008) - uraufführung
    sascha janko dragicevic | autogamie (2005) - für fagott und elektronische klänge
    - pause -
    pierluigi billone | legno.edre II. edre (2004)
    marcus antonius wesselmann | solo 10 (2006) - uraufführung
    franck bedrossian | transmission (2002) - für fagott und live-elektronik

    johannes schwarz

    biographie



    Biographie

    Johannes Schwarz wurde 1970 geboren. Er ist seit 1990 als Fagottist in den verschiedensten musikalischen Bereichen tätig.

    Neben zahlreichen Aushilfen in Orchestern (WDR, RSO Frankfurt, Bonn, Bremen, Dortmund, Essen, Köln) arbeitete er auch in Barockensembles mit Originalinstrumenten. Desweiteren spielte er in Produktionen mit Big Bands (WDR, hr) und verschiedenen Improvisationsensembles. Er gründete die Kammermusikformationen Trio d'anches Köln, Kölner Bläseroktett, Tre Venti, Trio MODI u.a.

    Er war außerdem Mitglied in verschiedenen Ensembles für Neue Musik und trat als Solist bei mehreren Solo- Konzerten mit Orchestern und Ensembles für Neue Musik in Erscheinung.

    Seine CD-Produktionen sind breit gefächert: So ist er nicht nur mit von ihm uraufgeführten solistischen Werken für Fagott (u.a. mit Elektronik) zu hören, sondern auch ebenso mit klassischer und barocker Musik wie mit Tango- Arrangements, Pop- und Heavy-Metal-Musik.

    Als Musikpädagoge gründete und dirigierte er mehrere Schülerorchester, hatte Lehraufträge für Kammermusik und Fagott an den Hochschulen in Essen und Köln inne, gab Kurse für Fagott, Rohrbau und Kammermusik in Köln, Berlin, Montevideo, Sao Paulo, Buenos Aires, Taipeh, Tokio sowie Süd-Korea.

    Das Schul-Förderungsprogramm der Philharmonie Köln gehörte 1995-1998 ebenso zu seinen wie die vom Land Hessen geförderten „Response“-Projekte an hessischen Schulen 2004/05.

    Zur Zeit ist er als Dozent für Fagott an der „Internationalen Ensemble-Modern-Akademie (IEMA)“ in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Frankfurt tätig.

    Seit 2003 ist er Gesellschafter des Ensemble Modern.

    Seine neueste CD mit Uraufführungen für Solofagott wurde 2006 mit dem Hessischen Rundfunk produziert.

    Neben der musikalischen Arbeit im Ensemble Modern arbeitet er derzeit an einem umfassenden Audio-Archiv für Fagott, in dem sämtliche Klänge des Instruments in einer Computer-Datenbank erfasst, analysiert und für Komponisten wie auch Fagottisten verfügbar gemacht werden sollen.

    der interpret



    „Herausschälen aus dem klassischen Korsett“ – der Fagottist Johannes Schwarz

    Dass das Fagott in Sergei Prokofjews musikalischer Erzählung für Kinder Peter und der Wolf den ebenso behäbigen wie strengen Großvater charakterisiert, sagt viel über das Image des Instruments aus – ein Image, das allerdings im Begriff ist, sich nachhaltig zu verändern; zumal dank des Fagottisten Johannes Schwarz, der nicht nur im Ensemble Modern die Farbe seines Instruments hochhält, sondern auch immer wieder als Solist hervortritt. Zentrales Moment seines interpretatorischen Ansatzes ist, sich von der klassischen Intonationsweise, die bis in die 1970er-Jahre hinein das Fagottspiel vornehmlich beherrschte, zu trennen. Erst mit Werken von Sofia Gubaidulina, Isang Yun und Karlheinz Stockhausen deutete sich auch für das Fagott ein Zeitenwandel an.
    Schwarz’ Loslösung vom herkömmlichen Umgang mit dem Instrument erfolgt auf der Basis weit reichender Erfahrung mit dem tradierten Repertoire. Er wirkte in zahlreichen Orchestern und Ensembles mit, die sich der klassisch-romantischen Literatur, aber auch der Barockmusik auf Originalinstrumenten widmeten. Lediglich das Bewährte zu bewahren, ist indes seine Sache nicht. Dass sich Schwarz überhaupt dem Fagott zuwandte, hat mit seiner Faszination für Holz als Material zu tun, auch im handwerklichen Sinne. So ist die Beschäftigung mit Instrumentenbau und der „Anatomie“ des Fagotts ein wichtiger Aspekt seiner künstlerisch-en Arbeit, der auf die Erweiterung der Spieltechnik zurückstrahlt. Den „hölzernen“ Klang sieht er als eine Gegebenheit an, die ihn einerseits stark anspricht und andererseits zur Aufhebung jeglicher, dem Instrument innewohnender Beschränkungen reizt.
    Eine Voraussetzung dafür sind die Fähigkeiten des Spielers selbst, etwa im Hinblick auf die Zirkularatmung. Sie versetzt den Interpreten – und das gilt auch für andere Blasinstrumente – in die Lage, die am menschlichen Atem orientierte klassische Phrasenbildung hinter sich zu lassen. „Früher wurden“, so Schwarz, „die Kompositionen nach dem Atemvorrat eines Menschen angelegt. Virtuosität und Phrasenbildung hingen eng zusammen. Was nützt die schönste Koloratur, wenn der Atem ausgeht. Das kann man jetzt durchbrechen. Die klassische Phrasierung ist für das Fagott eine Zwangsjacke, die es abzulegen gilt.“
    Ein wesentliches Kriterium für die Eröffnung neuer Dimensionen des Fagottklangs ist zudem der enge Austausch mit zeitgenössischen Komponisten. Schwarz ist zwar selbst kein Komponist, kein „Schöpfer“ im engeren Sinne, aber er versteht sich solistisch und im Ensemble Modern „als Entwickler, der mit den Komponisten zusammen versucht, neue Wege zu gehen. Ich kann den Komponisten vormachen, wie es möglich ist, sich aus dem klassischen Korsett herauszuschälen.“
    Eine immense Rolle kommt dabei der elektronischen Klangmodifikation und -verfremdung zu, und zwar durch Live-Elektronik und vorproduzierte Zuspielungen. Dabei vernachlässigt Schwarz keineswegs die eigentliche akustische Identität des Fagotts. In einem gemeinsamen, auf mehrere Jahre angelegten Projekt mit dem Experimentalstudio des SWR spielt er unter Einbeziehung aller Griffkombinationen sämtliche Fagottklänge bis hin zu Luftgeräuschen und komplexen Mehrklängen (Multiphonics) ein, um diese zu erfassen, zu systematisieren und auch für die Klanganalyse verfügbar zu machen. Sein profundes Interesse an akribischer Aufarbeitung des Instrumentalklangs dient vor allem dazu, das Klangspektrum des Fagotts zu bereichern und auszuforschen. Dahinter steht das Ziel, der Repertoirebildung für das Fagott Impulse zu verleihen. Wie Schwarz diese Entwicklung an- und vorantreibt, ist in seinem, im Rahmen von „unvorhergehört“ unternommenen Streifzug durch die zeitgenössische Fagott-Landschaft in konzentrierter Form mitzuerleben – mit neuen und neuesten Werken, die die Komponisten dem Solisten „auf den Leib“ geschrieben haben.

    Egbert Hiller

    die komponisten



    © kai bienert

    www.ensemble-mosaik.de
    Enno Poppe: holz

    In holz für Fagott verknüpfte Enno Poppe traditionelle mit unkonventionellen Spieltechniken. Nicht nur, dass in dem Titel der Werkstoff benannt ist, aus dem das Instrument selbst besteht, auch verfolgt Poppe die Idee vom naturnahen musikalischen Material. Bezeichnungen wie „Holz“, „Knochen“ und „Öl“ begreift er in diesem Zusammenhang als „Chiffren des Organischen“. holz solo entstand 2000/2004; extrahiert hat Poppe es aus dem gleichnamigen Werk für Klarinette und kleines Ensemble von 1999/2000. Allerdings bildete der Part der Soloklarinette bereits für die Ensemblekomposition den Kern, von dem die Stimmen der anderen Instrumente abgeleitet wurden. Ausgangspunkt ist ein viertöniges Motiv, dessen Rhythmus (kurz-kurz-lang-lang) und Bewegungsprofil (auf-auf-ab) Poppe nach allen Regeln der Kunst verarbeitete. Darin ein Abbild der organischen Strukturen zu sehen, die das Holz im Innersten zusammenhalten, liegt nahe – wäre da nicht die bewusste Einbringung von Abweichungen, Webfehlern und Widersprüchen, die den organischen Wachstumsprozess aufrauen und dem logischen Aufbau die Freiheit der spontanen Entscheidung entgegensetzen.
    Diese Doppelbödigkeit spiegelt sich auch auf klanglicher und spieltechnischer Ebene wider: Poppe reizte die klassische Spielweise aus und durchsetzte holz zugleich mit Vierteltönen und extremen rhythmischen Finessen. Zudem steht die Komposition des Materials quer zur Physiognomie des Interpreten: Gängige Phrasenbildung und natürliches Atemholen sind in holz kaum möglich. Dennoch kommt als Gegenpol auch das Spielerisch-Virtuose nicht zu kurz. Zart und klagend in den Höhen, bohrend in der Tiefe, blüht der Fagottklang in jeder Hinsicht voll auf, klangfarbliche Kontraste, freie Intonation und subtile Schwebungen eingeschlossen.

    Egbert Hiller



    © katharina kneisel

    www.dietrich-eichmann.de
    Dietrich Eichmann: study no. 393

    Seine künstlerischen Wurzeln hat Dietrich Eichmann im Jazz und der improvisierten Musik, die er mit kompromisslosem kompositorischem Vorgehen vereint. In diesem ungewöhnlichen Spannungsfeld bewegt sich auch seine Zusammenarbeit mit Johannes Schwarz, mit dem er neue Spieltechniken in Verbindung mit Live-Elektronik generiert. Die Ergebnisse schlagen sich in study no. 393 nieder, einem „work in progress“, dessen letzte Version heute erstmals erklingt und das, laut Eichmann, „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit“ weitere Studien hervorbringen wird. Immer wieder taucht der Titel „study“ in seinem Werkverzeichnis auf, ist er doch Synonym seiner beständigen Suche nach bis dato ungeahnten klanglichen Ausdruckspotenzialen. In study no. 393 destillierte Eichmann „aus einer literarischen Quelle durch mehrfache Überlagerung irrationale Akkordfolgen, die anhand der von Schwarz entwickelten und systematisierten Mehrklänge für das Fagott realisierbar gemacht wurden.“
    Eichmann verwendete über 300 solcher Multiphonics, die hohe Ansprüche an den Interpreten stellen und das „Klangbild“ maßgeblich prägen. Ebenfalls essenziell ist die Live-Elektronik, in der aber weder Effektschaltungen zur Klangmanipulation noch Zuspiele mit vorproduziertem Klangmaterial zum Einsatz kommen. Vielmehr wird, so Eichmann, „das live gespielte Fagottsignal an drei verschiedenen Stellen des Instruments abgenommen, jedes einzelne zur Verdeutlichung dabei leicht gefiltert. In direkter Korrespondenz zum musikalischen Verlauf des Stückes bewegen sich die drei verschiedenen ’Farben’ unabhängig voneinander im Raum. Für den Hörer, der schwerlich in der Lage sein wird, die einzelnen Wege getrennt voneinander zu verfolgen, entstehen in der Kombination mannigfaltige ungewöhnliche Hörwege und -räume.“

    Egbert Hiller

    Sascha Janko Dragicevic: autogamie

    Den Titel seines in mehreren Versionen existierenden Stückes autogamie entnahm Dragicevic der Biologie. „Autogamie“ bedeutet Selbstbefruchtung, und dieses Phänomen schlägt sich auf konstruktiver Ebene nieder. Zugrunde liegt ein formaler Code von zehn – abwechselnd dynamischen und statischen – Teilen, aus dem sich alle Zeitparameter und musikalischen Gestalten, alle Bewegungsmuster ableiten. Das geht soweit, dass zehn großformale Gliederungselemente jeweils in zehn Phrasenabschnitte unterteilt sind, die wiederum aus zehn rhythmischen Bausteinen zusammengesetzt sind. Alle Teile der drei Ebenen zeichnen sich durch gleiche Proportionen und Charakteristika aus, worin sich eine ideelle Analogie zur fraktalen Geometrie festmachen lässt.
    In den dynamischen Teilen dominieren nervöse mikrotonale Figuren, die kontrapunktisch dicht verwoben sind. „Es herrscht Ruhe- und Rastlosigkeit, die Gestalten“, so Dragicevic, „fliegen wie wilde Vögel ohne Verbindung zur Erde umher“. Dagegen sind die statischen Teile von flächigen und gedehnten Liegeklängen geprägt. Sie bewegen sich wie Pflanzen, die fest im Erdboden verwurzelt sind und sachte hin und her schwingen. Dragicevic übertrug diesen Kontrast auf die vier Temperamente. Während er mit den dynamischen Teilen das Sanguinische und Cholerische assoziierte, setzte er die statischen Teile mit dem Phlegmatischen und Melancholischen gleich. „Diese gegensätzlichen Charaktere sind nach meinem Empfinden im Fagott wie in kaum einem anderen Instrument enthalten. Das heißt, dass die Grundidee dieser sehr abstrakten Struktur meiner subjektiven Fagott-Rezeption entspringt.“
    Dragicevic knüpfte nicht am tradierten Fagottklang an, sondern eben am experimentellen Ansatz von Johannes Schwarz. Entstanden ist autogamie in engem Kontakt mit ihm. Die Version 4 für Fagott, Live-Elektronik und elektronische Zuspielklänge stammt von 2005/06. Zwar ist der elektronische Part unmittelbar in die strukturelle Disposition einbezogen; gerade durch das Zusammenwirken beider Sphären stechen aber, nun im Sinne gegenseitiger „Befruchtung“, auch klangsinnliche Dimensionen hervor. „Die elektronischen Klänge folgen dem Fagott wie der Schweif dem Kometen, sie vollziehen seine Bewegungen nach, umhüllen es, unterstreichen seine Ausbrüche und schweigen, wenn es schweigt.“» top

    Egbert Hiller



    Pierluigi Billone: legno.edre II. edre

    Regte Johannes Schwarz bereits eine Reihe zeitgenössischer Tonkünstler an, sich auf unorthodoxe Weise mit dem Fagott auseinander zu setzen, so wurde er seinerseits von einem Komponisten inspiriert – und zwar von Pierluigi Billone, der in seinem Stück mani long von 2001 nicht nur auf das Moment des Geräuschhaften, sondern auch auf Multiphonics zielte. Für Schwarz geriet das Werk zur Initialzündung, sich selbst intensiv mit dieser Form der Mehrstimmigkeit zu befassen: „Bei Billone ist das ganz anders gelagert als etwa in Helmut Lachenmanns ’musique concrète instrumentale’. Lachenmann geht es ja vor allem darum, auch den Anteil menschlicher Arbeit an der Musik, also das Intonieren an sich in seiner Geräuschhaftigkeit, zu artikulieren. Das ist auch ein gesellschaftspolitisches Programm. Billone bleibt aber musikimmanent. Er hat Bassklarinette und Fagott klanglich erforscht, um die Instrumente selbst erst einmal an ihre Grenzen zu bringen.“
    In den Jahren 2003/04 komponierte Billone, der Schüler von Lachenmann und Salvatore Sciarrino war, mit legno.edre I-V eine Serie weiterer Werke für Fagott, in denen er den eingeschlagenen Weg konsequent fortsetzte: Geräusch und Mehrklang durchdringen sich in legno.edre II. edre derart, dass es auch für Schwarz immer wieder Unerwartetes zu entdecken gibt: „Bei Billone funktioniert das durch eine chaostheoretische Unwägbarkeit der Klangresultate im allerdings vorgeschriebenen Intonationsvorgang. Durch die artifiziell vorbeiströmende oder fast tonlos durchströmende Luft entstehen ganz ungeahnte Obertonbereiche und Schwingungsvorgänge.“
    Hier schließt sich auch der Kreis zur wissenschaftlichen Katalogisierung der Fagottklänge, wie Schwarz sie in Angriff nahm (s. o.). „Wenn die Landkarte noch weiß ist, orientiert man sich erst einmal an den Meridianen, um konkrete Landschaften kenntlich zu machen. Es werden in der Tat noch nie zumindest von diesem Instrument gehörte Klänge exponiert. Das Fagott nimmt sich hier selbst alle Freiheit.“» top

    Egbert Hiller



    © malangeri photography

    www.preparadise.deRELAUNCHED
    Marcus Antonius Wesselmann: solo 10

    „Zur Dynamik: Das vorliegende Werk soll, wenn nicht anders angegeben, mit maximaler Lautstärke gespielt werden. Es ist jedoch darauf zu achten, dass zwischen akzentuierten und nicht-akzentuierten Tönen ein deutlicher Kontrast hörbar ist.“ In dieser Anmerkung von Marcus Antonius Wesselmann in der Partitur seines solo 10 zeichnen sich zentrale Merkmale des 2006 komponierten und nun zur Uraufführung gelangenden Werks ab: die enorme Kraftanstrengung samt Durchhaltevermögen, die es dem Solisten abverlangt, und das Prinzip des Kontrasts, das solo 10 durchdringt. Das fängt bei den drei Materialebenen an, die zugleich drei Bewegungsformen repräsentieren: Die erste formuliert als Anfangssequenz einen Nukleus, der eine immer wieder gebrochene tänzerische Linie exponiert. Demgegenüber steht als zweite Ebene der „Stillstand“, in dem die Horizontale durch Akkordbildung ins Vertikale transformiert. Die Akkorde beruhen auf Multiphonics, von denen insgesamt 20 auf vorgegebenen Basistönen Verwendung finden und deren Ausführung der Spieler selbst bestimmen soll. Ihre Bedeutung nimmt im Verlauf von solo 10 zu, bis sie am Ende zur dominierenden Klangqualität aufsteigen. Das geschieht auf struktureller Basis, indem die Multiphonics als Fenster und Verbindungsglieder zwischen zwei interferierenden Phasen fungieren. Die dritte Materialebene ist die der rasanten Beschleunigung, die sowohl mit dem „Tänzerischen“ – als aus den Fugen geratener Tanz – als auch in dialektischer Verknüpfung mit dem Stillstand als Gegenbild korrespondiert.
    Den drei Materialebenen entsprechen drei Grundzüge der Klangerzeugung: vom tradierten sonoren Eigenklang des Fagotts über dessen Verfremdung zum „swingenden“ Saxofon bis zum Didgeridoo-Effekt, in dem in Anlehnung an das Blasinstrument der australischen Ureinwohner ein singender, extrem obertonreicher Klang entsteht. Dies unterstreicht die Wandlungsfähigkeit des Instruments. Zudem spiegeln sich indirekt auch Klassik, Jazz und Weltmusik als drei zentrale Bereiche des Musiklebens und der Musikausübung wider. Strukturelle Faktoren waren bei der Konzeption des Werks ausschlaggebend; dennoch stimuliert die klingende Verlebendigung dieser Strukturen auch die Vorstellungskraft. So kann es als gesellschaftspolitische Reflexion aufgefasst werden, dass die wechselseitigen Beziehungsfelder in solo 10 einen „Gleichschritt“ unmöglich machen.» top

    Egbert Hiller



    Franck Bedrossian: transmission

    Die Grenzen des Fagottklangs aufheben will auch der französische Komponist Franck Bedrossian, nur in ganz anderem Sinne. Zwar prägten ihn seine Lehrer Gérard Grisey, Marco Stroppa und Helmut Lachenmann, in transmission für Fagott und Live-Elektronik wich er von deren Pfaden aber drastisch ab. Voraussetzung für das 2002 konzipierte Werk waren Studien in Komposition und Computermusik am Pariser IRCAM. Umso überraschender ist, dass dem Fagott in transmission „schrapnell-ähnliche Heavy-Metal-Klänge“ gegenüberstehen. Der Spieler wird jedenfalls zur „Knochenarbeit“ gezwungen und hat es dennoch schwer, vor diesen insistierenden Klangballungen überhaupt noch erkannt zu werden.
    Solcherart rückt transmission in die Nähe einer Performance, und der Klang des Fagotts muss so forciert werden, dass er ins Synthetische tendiert. Hart prallen die Gegensätze aufeinander. Die Kommunikation über Zeit und Raum mutet gestört an, aber nur an der Oberfläche, denn im Hintergrund sind die Beziehungen zwischen akustischen und elektronischen Klängen, wie Schwarz erläutert, tief greifend: „Instrumentalist und Elektronik befinden sich in einem Spiegel-Verhältnis. Im Spiegel der Elektronik spiegelt sich das Fagott. Dessen kleineres Spiegelbild nimmt die Elektronik erneut auf und wird wiederum von ihr zurückgeworfen. So entstehen Frequenzgänge, die klanglich vom Original zwar noch durch die Kausalität der Ereignisse gefangen, in der Wahrnehmung aber schon Lichtjahre voneinander entfernt sind.“
    „Dem unwahrscheinlichen Zusammentreffen eines für das symphonische Universum typischsten Instruments mit neuer Technologie“ wollte Bedrossian in transmission adäquaten Ausdruck verleihen. Dass sich Schwarz trotz besagter „Knochenarbeit“ für das Stück begeistert, hängt gewiss auch damit zusammen, dass darin das Spannungsfeld seiner eigenen künstlerischen Arbeit in radikaler Zuspitzung aufscheint: den klassischen Rahmen des „behäbigen“ Fagotts aufzubrechen und es unter Auslotung aller Extreme in die zeitgenössische Klangwelt freizusetzen.» top

    Egbert Hiller